Reinhard Kuhnert: Abgang ist allerwärts

Elias Effert ist ein junger und erfolgreicher Autor in der DDR, der in Berlin lebt. Um einen Rückzugsort für seine Arbeit zu schaffen, kauft er Mitte der 70er Jahre ein altes Haus in einem kleinen Dorf. Das Haus braucht viel Zuwendung, um wieder bewohnbar zu werden, was dazu führt, dass sich Effert, der mit den Dorfbewohnern ursprünglich nichts zu tun haben wollte, langsam mit ihnen anfreundet und ein Teil ihrer Gesellschaft abseits der Hauptstadt wird.

Mit „Abgang ist allerwärts“ hat Reinhard Kuhnert einen Roman vorgelegt, der stark an sein eigenes Leben angelehnt ist. Er ist wie Effert in der DDR aufgewachsen und dort zu einem erfolgreichen Autor geworden. Und wie Effert, musste er in den 80er Jahren am eigenen Leib erfahren, dass es in diesem Staat nicht erlaubt ist, anders zu denken und dies dann auch noch veröffentlichen. Wie sein Romanheld hat er sich damals auch dafür entschieden, das Land zu verlassen und in den Westen zu gehen.

Im Roman führt Effert zunächst ein weitestgehend sorgenfreies Leben, man kann es wahrscheinlich auch privilegiert nennen. Er hat eine eigene Wohnung in Berlin, ein Auto, Telefon, und kann sich ein Haus als zweiten Wohnsitz leisten und dieses vollständig renovieren. Er schreibt für Bühne und Fernsehen, und auch wenn man hin und wieder an seinen Werken etwas auszusetzen hat, darf er alles schreiben und veröffentlichen, so wie er es möchte – zumindest für eine Weile.

Kuhnert erweckt eine Welt zum Leben, die gar nicht so lange her ist und inzwischen doch zur Geschichte gehört. Und man kann nur sagen, zum Glück. Denn das zunächst zumindest sorgenfreie Leben des Schriftstellers steht in starkem Kontrast zum schweren Los der Dorfbewohner, die zu einem großen Teil im Alkohol Zuflucht und Erlösung finden. Ist das ein besseres, einfacheres und ehrlicheres Leben? So zumindest sieht es Effert, und fühlt sich darin immer wohler, ganz besonders dann, als sein Leben in der Hauptstadt auseinanderfällt.

Je fremder Effert das Leben in der Stadt geworden war, desto vertrauter schien ihm das kleine Dorf zu werden. Hier waren die Leute, die er in der Kneip‘ oder im kleinen Laden des Schlosses traf, verlässlich, ihr Verhalten war berechenbar. Ihr oft eigenwilliger Blick auf die eigene Geschichte kümmerte sich nicht um die pragmatischen Wendungen der Tagespolitik, denn selbst in ihrem Starrsinn, in ihrer Engstirnigkeit und in ihren Vorurteilen sprachen sie das aus, was sie meinten.

Seite 92

Dieses Dorf und seine Bewohner (auch wenn sie in der Form alle erfunden sind und man nur erahnen kann, dass Kuhnert ihren Vorbildern wahrhaftig begegnet ist) sind etwas Besonderes und sie verleihen diesem Buch seinen Zauber. Eine Figur nach der anderen wird mit ihrer Geschichte vorgestellt, bis man das Gefühl hat, dass man alle kennt. Man könnte mit ihnen in der Kneipe sitzen – zumindest als Mann, Frauen scheinen da nur vorbeizukommen, um ihre betrunkenen Männer nach Hause zu scheuchen -, ihnen auf der Straße begegnen oder im kleinen Laden beim Einkaufen, und man wüsste, wer was alles bereits erlebt und überstanden hat. Da ist Norbert mit seinem Pfefferminzlikör, Edda mit der Post und dem aktuellen Tratsch oder der alte Paul, der ganz sicher nicht als Ehemann taugt und nun trotzdem wieder nach einer neuen Ehefrau auf der Suche ist.

Effert verlässt das Dorf und das Land, und fährt Jahrzehnte später zurück. Findet er das hier wieder, was er damals gefunden hat? Hat sich alles verändert? Oder war vielleicht sein Blick damals etwas betrübt?

Reinhard Kuhnert bringt uns in seinem Roman auf eine Reise in die Vergangenheit mit sich, und ich war sehr gerne mit ihm im Osten der DDR unterwegs. Es hat viele Erinnerungen an meine eigene Kindheit geweckt, aber ich habe auch viel über die Zeit und die Menschen damals gelernt. Die Politik hat Schicksale geformt, Familien auseinander gerissen, Karrieren ein Ende gesetzt. Da konnte man für eine Art unberührte Insel abseits der Geschehnisse dankbar sein, nur um quasi als Erwachsener festzustellen, dass es gewiss auch kein Paradies gewesen ist.

Es interessantes, wertvolles Leseerlebnis bietet Kuhnert mit „Abgang ist allerwärts“, das ist an dieser Stelle sehr gerne empfehle.


Diverses

Der erste Satz:

Das ganze Dorf brannte.

Impressum:

Autor: Reinhard Kuhnert
Titel: Abgang ist allerwärts
Seitenzahl: 240
Verlag: Mirabilis
Erschienen: 2019
© Mirabilis Verlag

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