Volker Ullrich: Deutschland 1923

Was für ein Jahr war 1923! Stefan Zweig spricht von einer „Tollhauszeit“, und der Ausdruck ist nicht übertrieben. In jenem Jahr erlebte Deutschland die Besetzung des Ruhrgebiets, Hyperinflation, politische Unruhen, einen Putschversuch, separatistische Bewegungen…. Das wäre genug für ein Jahrzehnt, und doch war das alles nur der Auftakt für die kommenden dunklen Zeiten. Der Journalist und Historiker Volker Ullrich zeichnet in seinem neuen Buch eine detaillierte Chronik dieses verrückten Jahres.

Es ist gar nicht so einfach, die Ereignisse dieses Jahres zusammenzufassen; der Autor muss letztlich davon absehen, dies in einer chronologischen Reihenfolge zu tun. So findet man in dem Buch größere thematische Blöcke, zum Beispiel zur Ruhrbesetzung, zur Hyperinflation, zur Kultur der Zeit, zur Suche nach einem Diktator. Aber all diese Vorgänge geschehen gleichzeitig, beeinflussen sich gegenseitig, wirken sich auf die jeweiligen Ereignisse aus. Und sie entstehen natürlich nicht aus dem Nichts – der Erste Weltkrieg, die Geburt der Weimarer Republik spielten hier eine große Rolle.

Hyperinflation in der Weimarer Republik

Volker Ullrich – der dieses Buch während der Corona-Pandemie geschrieben hat und große Schwierigkeiten hatte, im Lockdown an die entsprechenden Quellwerke heranzukommen – schafft es glänzend, diese Themenblöcke nacheinander detailliert darzustellen und zu erläutern, aber auch dafür zu sorgen, dass der Leser das große Ganze sieht und die Zusammenhänge versteht. Ohne die Besetzung des Ruhrgebiets wäre die Inflation vielleicht gebändigt worden, ohne die irrsinnigen Summen, die plötzlich für alles bezahlt werden mussten, wäre „Babylon Berlin“ nicht entstanden. In einer stabileren Zeit hätte sich auch die Regierung stabilisieren können und wäre weniger anfällig für extremistische Kräfte gewesen.

Überall war jeder mit der Liebe beschäftigt mit Hast und Lust. Ja, die Liebe hatte selbst einen inflationären Charakter angenommen.

Seite 98, Sebastian Haffner zitiert

Es ist keine Frage des „was wäre wenn“, obwohl die Zerbrechlichkeit der Zeit, ihre Unvorhersehbarkeit, uns auch vor Augen führt, wie und wann spätere tragische Ereignisse hätten vermieden werden können. Der Autor macht diese Punkte immer wieder deutlich, wenn er zum Beispiel sagt, dass eine Kugel nur 30 cm weiter hätte einschlagen müssen, und Hitler hätte den Putsch in München nicht überlebt. Dabei wird einem wieder einmal bewusst, welche Bedeutung kleine Dinge in der Geschichte oft haben – auch wenn man ihre Bedeutung natürlich erst im Nachhinein erkennt. In der Hoffnung, dass man daraus etwas für seine eigene Zukunft lernen kann, sollte man sich jedoch durchaus die Zeit nehmen, mehr über die Vergangenheit zu erfahren.

Auch wenn einige politische Veränderungen für mein persönliches Interesse viel zu detailliert dargestellt wurden, fand ich „Deutschland 1923“ von Volker Ullrich eine spannende und lohnende Lektüre, die ich gerne weiterempfehle. Besonders gut gefallen haben mir die Abschnitte über die Kunst und Kultur der damaligen Zeit sowie die Einblicke in die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Ereignissen, die auf den ersten Blick weit entfernt scheinen.


Diverses

Vielen Dank an dieser Stelle an den C.H. Beck Verlag für das Rezensionsexemplar.

Der erste Satz:

Das Jahr 1923 begann mit einem Paukenschlag: Am 11. Januar marschierten französische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet ein.

Impressum:

Autor: Volker Ullrich
Titel: Deutschland 1923
Seitenzahl: 441
Verlag: C.H. Beck
Erschienen: 2022
© Verlag C.H. Beck oHG

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..