Sören Urbansky: An den Ufern des Amur

Sören Urbansky An den Ufern des Amur

„Die vergessene Welt zwischen China und Russland“ lautet der Untertitel dieses Buches, doch diese Welt, auf die Historiker Sören Urbansky unsere Aufmerksamkeit richtet, ist eine, die immer wieder Spannungen zwischen zwei Großmächten hervorruft. Denn hier, entlang des Amurs, grenzen Russland und China auf über 2000 Kilometer aneinander. In den mehr als drei Jahrhunderten des Bestehens dieser Grenze kam es immer wieder zu Konflikten und auch heute kann man nicht von Freundschaft zwischen Russland und China sprechen. „Fremde Nachbarn“ nennt Urbansky die beiden, sehr treffend.

Wer hier aber eine historische Abhandlung erwartet, der sollte sich lieber nach einem anderen Buch des Historikers umsehen, denn in diesem Fall halten wir einen Reisebericht in der Hand. Urbansky reist vom Baikalsee bis zum Japanischen Meer. Und er lässt sich Zeit bei dieser Reise, er nimmt den Zug oder den Bus oder lässt sich immer wieder mal von jemandem mit dem Auto mitnehmen. Es geht von Russland über die Mongolei nach China und dann wieder nach Russland (mit einem kleinen Abstecher zuvor zur nordkoreanischen Grenze). Unterwegs trifft er alte Freunde und Bekannte, und unterhält sich auch gerne mit Fremden. Sprachprobleme hat er dabei nicht, denn er hat unter anderen auch in Russland und in China studiert. Der einzige Nachteil, den er manchmal hat, ist, dass man ihn für einen Russen hält – einmal wird er deshalb nicht in ein Museum gelassen. Der Historiker bleibt aber natürlich auch auf Reisen ein Historiker, so begleitet er die Erzählung seiner Reiseerlebnisse mit Exkursen in die Geschichte der jeweiligen Gebiete.

Die beiden Seiten dieser langen Grenze könnten teilweise nicht unterschiedlicher sein. Die russische Seite ist auf weiten Strecken unterbevölkert, während die Chinesen überall um mehr Platz ringen. Entwicklungen, Modernisierungen auf der einen Seite, Verfall auf der anderen. Russen finden Arbeit und Zukunft in China, Chinesen fahren zum Urlaub nach Russland oder versuchen da an Haus und Land zu kommen. Gerade Letzteres führt heute immer wieder zu Ängsten und Spannungen. Denn China braucht dringend mehr Fläche und Russland ist nicht in der Lage, weite Gebiete zu bevölkern und die Wirtschaft dort anzukurbeln. Es gibt zwar Bemühungen auf russischer Seite, doch diese sind nicht durchdacht genug, um wirklich Leute aus dem Westen Russlands in den Osten zu locken. Was, wenn China diese praktisch verlassenen Gebiete einverleibt?

Auf der anderen Seite erwecken gerade chinesische Pläne, wie die Neue Seidenstraße russische Hoffnungen. Doch Urbansky sucht vergebens nach Spuren dieses Projekts und auch viele Russen glauben inzwischen, dass China mehr auf den Seeweg im Süden setzt, als auf den Landweg, der ihnen helfen würde.

Allenthalben macht die Natur sowjetische Fünfjahrespläne Rückgängig. Wie riesige Mikadostapel lagern zuweilen Baumstämme neben dem Gleisbett, bereit für den Export nach China – oft sind sie das einzige Zeichen wirtschaftlicher Aktivität.

Seite 132

Überall auf der russischen Seite stößt Urbansky auf Zeichen einer untergegangenen goldenen Ära. Heute hat sich das Glück gewendet, China ist jetzt deutlich stärker und reicher als sein Nachbar. Russland dient als Rohstofflieferant, ist selbst jedoch darauf angewiesen, die fertigen Produkte aus China einzukaufen. Nach einem guten Geschäft klingt das nicht und auch nicht nach einer gesunden Wirtschaft.

Wenn ich irgendetwas in diesem Buch vermisst habe, dann waren es Fotos. Ich hätte gern die Menschen gesehen, die der Autor getroffen, und die Gebiete, die er bereist hat. Doch seine plastischen Beschreibungen machen Bilder nicht unbedingt notwendig. Die Karte auf der Innenseite des Umschlags war umso nützlicher. Ich kann nur hoffen, dass dieser erste Ausflug Urbanskys aus der Welt der Fachliteratur in die der Sachbücher nicht der letzte bleibt – mir jedenfalls hat dieses Buch nicht nur Spaß gemacht, sondern auch meine Augen für eine Welt geöffnet, die ich nicht kannte, die ich nun aber für absolut kennenswert halte.


Diverses

Vielen Dank an dieser Stelle an den C.H. Beck Verlag für das Rezensionsexemplar.

Der erste Satz:

Marschbefehl an die sowjetische Grenze.

Impressum:

Autor: Sören Urbansky
Titel: An den Ufern des Amur
Seitenzahl: 375
Verlag: C.H. Beck
Erschienen: 2021
© Verlag C.H. Beck oHG

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